unterwegs und aufgelesen

Textsammlung von Marion Römer, erschienen 2006 im Selbstverlag

Unterwegs nach Hamburg

Was hat dich bewogen mitzufahren? Irgendetwas muss dich doch bewogen haben.
Ich habe darüber noch nicht nachgedacht. Ich wollte einfach mit.
Jetzt denke ich nach: Flucht. Ja. Flucht, höre ich mich sagen, und bin zufrieden mit meinem Satz. Erwarte keine Reaktion. Überraschenderweise kommt sie: Klingt interessant.
Interessant, dass ich flüchte? Wovor eigentlich? Vor mir? Nein, nicht wirklich. Jetzt habe ich das Wort, vor den Verbindlichkeiten. Komme nicht raus aus dem Leben. Will aber. Ja, ich will. Ich dachte, es ginge. Fälschlicherweise. Muss ändern Zeit, Menschen, Ort oder mehr oder alles. Früh um sieben brach es aus mir heraus. Weg, nur weg! Das versteht jeder nicht.

Ich will weg, höre ich mich sagen, weg.
Ich bin ihm dankbar, dass er die Frage nicht stellt.

auf dem Weg nach Hamburg am 16.Juli 02

Regenbrötchen

Regen. Man kann hindurchschauen. Sieht den Brötchenbeutel. Wurstbrötchen. Die Wurst quetscht auf der Seite heraus. So, wie der Bauch aus der Hose unter dem hellblauen Hemd und das Doppelkinn über dem hellblauen Hemdenkragen unter den blonden speckigen Haaren und den Augen hinter der Brille. Man sieht das, weil er höher sitzt in seinem Bus als wir. Stehen auf der anderen Straßenseite. Die Reisegruppe steht draußen im Regen wie wir. Die Brötchen haben es gut mit ihm im Bus. Noch. Die Salzstangen nicht mehr. Die sind schon Brei in Himbeerlimonade. Zwei Hände am Brötchen. Mund und Augen liefern sich einen Wettkampf in der Größe. Er schaut auf Himbeerlimonade, Salzstangen und Brötchen gleichzeitig. Die Hände klammern. Die zweite Hälfte des Brötchens muss Mund und Speisröhre mit Limonade und Salzstangen teilen. Jetzt sind die Hände frei. Beide. Die Augen schauen auf die Reisegruppe im Regen und freuen sich auf das nächste Brötchen, aus dem die Wurst heraushängt im warmen Bus. Diesmal freihändig, schneller. Abgebissen und geschluckt. Mit Himbeerlimonade hinuntergespült. Die rechte Hand schiebt nun doch den Rest in den Mund.. Sie ist fettig. Muss abgeleckt werden, als die linke in den Beutel mit dem letzten Brötchen greift.
Die Reisegruppe wird nass. Will in den Bus. Das Brötchen ist weg. Keiner hat bemerkt wie. Die Wursthände am Lenkrad jetzt. Wir stehen im Regen in der Speicherstadt in Hamburg. Später in der Sushi-Bar schmeckt alles nach Salamibrötchen.

Hamburg, 4. Mai 2002

Vorfreude

Graue Landschaft. Sturm und See fließen ineinander. Nur der Moment hält sie gefangen. Bändigt den Hass und die Liebe. Gibt ihnen Ruhe durch Endlichkeit, Einsamkeit. So lernt er sie halten und versteht, sie vor dem ewigen Wechsel der Gezeiten zu schützen.
Eine kleine Unachtsamkeit, nur ein kurzes Loslassen und Lebenssturm und Schauer würden sie im Nu davon tragen.
Aber, er hält sie ja.

Dennoch.
Unter Augen voller Zärtlichkeit und Händen voller Wärme entflieht ihre Seele.
Flieht vor den Worten, den zuviel gesagten und den nicht gesagten.

12.2.1992

Traumtod

Sie möchte nicht, dass er verliert gegen den Traum.
Der immer wieder kommt.
Sie begehrt. Sie (ver)führt. Sie reizt.
Sie zum Aufbruch drängt.
Zum Bruch.

Sie möchte nicht, dass er verliert gegen den Traum.
Die Erlösung von Sinnlosigkeit und Qual.
Und dem alten Leben.

Er ist jung der Traum.
Und der Tod. Ohne Falten. Weiß und durchsichtig.
Er ist gefroren, damit man ihm ins Gesicht schauen kann.
Er ist schön.

Aber dann
wird er getötet. Der junge Tod. Verbrannt.
Jetzt ist das Sterben vorbei und das Leben.

Das alles könnt sie ihm (nicht) sagen.

Berlin, 27.1.1999

Die Katze

sitzt auf diesem Baum. Zum ersten Mal. So weit hinauf. Flucht? Wut? Verzweiflung? Grenzgang? Abgrenzung zum Ende?
Streckt sich hinauf zum nächsten Ast. So weit sie will. Sie weiß, hinunter geht es nicht, hinunter muss es springen. Sie wird springen.
Winzig klein sieht sie ihn unten stehen. Er sucht sie. Irrt herum in seiner Verzweiflung. Sie ruft ihn nicht. Er kann sie nicht hören, nicht sehen. So weit weg. Vermutet er sie nicht. Er kennt den Weg nicht mehr. Kann sich nicht strecken. Ist von anderer Natur.
Es ist schön hier oben. Sie sieht den Himmel, die Sonne – Weite.
Er sieht so klein aus von hier oben. Die Erde auch.
Als sie springt, spannt sie die Pfoten nicht an. Sie will ihm nicht weh tun.

13.2.1992

Café – Portraits

Der Eierkuchen

Brille, graues Haar, Bauch, braune Wildlederjacke. Tasche. Freizeit? Arbeit? Ein Eierkuchen kommt. In der Speisekarte heißt er Crêpe. Aber so, wie er jetzt gegessen wird, ist es auf alle Fälle ein Eierkuchen. Schon nach der ersten Benutzung ist der Zimtzuckerstreuer halb leer, der Eierkuchen aber erst halb voll Zimt und Zucker. Bedächtigkeit beim Greifen von Messer und Gabel und Bierglas. Den Blick sehnsüchtig auf den Zimt gerichtet. Aber zuerst das Bier. Dann der Eierkuchen. Mit Messer und Gabel. In einem Stück. Für 6,50 Euro. Eierpfannkuchen mit Apfelmus und Zucker und Zimt.
Ein Fünfminutenerlebnis. Ein letztes Stück war abgeteilt für den Apfelmus. Es wird immer und immer wieder geteilt. Das Doppelkinn lächelt böse. Die Augen schauen traurig in die Speiseröhre.

Die Erdbeer-Sahne-Torte

Schmales Gesicht. Schnauzer. Gelbweißroter Hemdpulli. Langweilige Jeans. Das elegant auf die Gabel balancierte Stück Torte wird von den vorstehenden Schneidezähnen zurück auf den Teller geworfen. Jetzt wird die Torte geschlachtet. In drei Minuten. Tot. Weg. Wässrige Augen schauen nun in die Runde. Die Zähne, die der Torte im Wege waren, knaubeln jetzt an den Fingernägeln. Aber da ist ja noch der Kaffee in der Tasse.

Das Törtchen

Hinter der Zeitung schauen die Augen auf das Törtchen. Ich sehe, wie sehr sich die üppig geschminkte Dame anstrengt zu lesen. Und nicht das vierte Törtchen so schnell wie die ersten drei zu verschlingen. Sie liest die Gala.
Plötzlich ist das Törtchen weg, ohne dass wir es bemerkt haben. Erstaunt schauen wir uns an. Ich und die Dame hinter der Zeitung.

Hamburg, 2. Mai 2002

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