Über meine zugleich hoffnungsvolles und trauriges Buch
Die hier über 10 Jahre verfassten sehr persönlichen Briefe schreibe ich einer jungen afghanischen Frau, die 2015 mit ihrer Familie vor den Taliban aus Afghanistan floh.
Die Briefe basieren auf meinen Tagebuchaufzeichnungen. Ich schrieb darüber, inwiefern es (mir) gelingt, eine Familie, die im Herbst 2015 mit Personaldokumenten nach Deutschland kam, in Berlin zu integrieren. Es werden ebenso sowohl Veränderungen in Deutschland als auch in Afghanistan ab Dezember 2015 bis heute geschildert. Eindringlich wird am Einzelschicksal einer afghanischen Mutter und ihrer Familie gezeigt, welche Aspekte Integration verhindern und welche diese fördern. Das Buch legt in gleichem Maße auch meine eigene Veränderung in diesen 10 Jahren offen. Angetreten mit dem Ziel, Geflüchteten die deutsche Sprache nahezubringen, werde ich davon häufiger als mir lieb ist, aus den unterschiedlichsten Gründen, abgebracht. Bis heute sehe ich im Erlernen der deutschen Sprache den Schlüssel für ein erfolgreiches Ankommen in unserem Land. Dort liegt demzufolge auch der Fokus des Buches. Es beantwortet auch die Frage, wie ich mich, die bis heute kein Wort Dari spricht, ohne Sprachmittler mit Menschen verständigt habe, die kein Wort Deutsch, Englisch oder Französisch sprechen und lange keinen Handyvertrag haben.
Zum Zwecke der Anonymisierung und Objektivierung richte ich mich nicht im Tagebuch-Stil, sondern in Briefen an Sarah. Personendaten sind anonymisiert, einige Unterlagen aber authentisch übernommen. Das Datum der Briefe entspricht dem des Tagebucheintrages.
Jetzt im Januar 2025 weiß ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht, welche Partei ich in vier Wochen wählen werde, was nicht vordergründig an Deutschlands Flüchtlingspolitik liegt.
Ich widme dieses Buch den drei Kindern von Sarah.
Marion im Januar 2025
Leseprobe
Liebe Sarah, 2.12.15
eine Flüchtlingsunterkunft – eine Doppelturnhalle in meiner Nähe wird gerade eingerichtet mit im Karree aufgestellten Doppelstockbetten, umhüllt mit Stoff, so dass eine Art Privatsphäre für die Familien entstehen soll. 400 Menschen werden hier in zwei Turnhallen untergebracht, 200 davon sind bereits da, angekommen mit dem, was sie auf dem Leib tragen, einige in Strümpfen.
Ich ergreife die Chance, wage den Schritt, forsche, wie der Unterstützerkreis heißt, der hier hilft, denn nirgends, tat-sächlich nirgends erhält man Informationen, wann und wo eine Turnhalle eröffnet wird. Meistens geht das ganz schnell. Berlin ist überfordert mit der Menge an Zügen, die in Schönefeld ankommen, wo die Flüchtlinge mehr schlecht als recht notversorgt werden. Es stellt sich her-aus, dass es sich um eine Facebookgruppe handelt, über die sich Ehrenamtliche organisieren. Ein Facebook Profil habe ich keins. Im Laufe des nächsten Jahres soll das Portal zu einem wichtigen Informations- und Aktionsmittel werden. Also erstelle ich ein Profil, erbittet eine Aufnahme in die zuständige Gruppe, dies wird bestätigt und siehe da: Die Gruppe hat bereits 76 Mitglieder (ständig steigend).
Ich erhalte sofort die nötigen Informationen. Der Arbeitersamariterbund soll der Träger werden. Ich lese in der Gruppe, dass Helfer für die Essenausgabe gesucht werden. Warum ich mir einen Essenraum mit einem Tresen und richtige Teller vorstelle, weiß sie nicht.
Erstmals betrete ich eine neu eröffnete Notunterkunft. Mein Herz klopft laut. Neugier und Angst – beides macht sich gleichzeitig breit. Vor dem Halleneingang stehen rechts und links Dixi Toiletten in Reihe für die Männer, die vor der Halle rauchen oder versuchen zu telefonieren. Innen – ein langer Gang, der rechts zu einem sehr kleinen Raum führt, in dem ein provisorischer Tisch und eine Schulbank, aufgebaut wurden, hinter der drei Frauen stehen, die jeweils ein Brötchen und Schmelzkäse auf einem Aluminiumteller an die Flüchtlinge weitergeben. Nein, jetzt brauche man keine Hilfe, höre ich sie sagen.
Ich schaue mich um. Was wird dann gebraucht? Mit leeren Augen stehen die Ankömmlinge in der Schlange, bis sie an der Reihe sind. Die Helferinnen hinter dem Tisch, ratlos, sich selbst überlassen auf der Suche nach einem sinnvollen Organisationsprinzip in diesem kleinen Raum, in dem sie selbst erstaunt auf das karge Abendessen schauen. Außer diesem Caterer und der Security bewegen sich nur Ehrenamtliche in der Halle.
Durch eine große Glasscheibe in der unteren Halle sehe ich die Flüchtlingsfamilien, viele Frauen, viele Kinder, festgelegt auf 2 x 2 Meter Privatsphäre. Vorerst geht es nur ums Überleben. Essen, Trinken, Schlafen. Ich ahne nicht, dass es lange so bleiben wird.
Ich bin erschüttert, ich spüre Fremde.
Ich steige die Treppe hinauf. Die Betten in der oberen Halle sind noch leer. Eine Arbeitsstruktur des Helferkreises (wer unterstützt wann, mit wem, was und wie) ist hier nicht zu erkennen. Das muss ich wohl in sozialen Netzwerken her-ausfinden. Aber da geht‘s auch „nur“ um Übernahme der Essenausgabe oder Kleiderspenden, was nicht so mein Anliegen ist, ohne dies herabwürdigen zu wollen.
Was dann? Ich versuche, mich in die Menschen hineinzuversetzen. Was brauchen sie neben Nahrung und Schlafplatz? Vielleicht das Wissen, wo sie sich befinden, Informationen über das Umfeld? Wovon haben die Menschen hier Kenntnis, wovon nicht? Ich habe keine Ahnung. Sprachmittler sehe ich bis zu diesem Zeitpunkt keine. Auch das wird sich lange nicht ändern.
Ich gehe nach Hause, suche Zeige-Wort-Übersichten her-aus und Piktogramme, drucke einige Wortübersichten auf Deutsch-Arabisch aus und gehe am nächsten Tag wieder in die Halle. In der Essenausgabe stehen die gleichen Damen vom Vortag. Ich sehe ihnen an, dass sie sich heldenhaft fühlen. Die Sprachhilfen werden mir aus den Händen gerissen. Sie reichen keineswegs aus. Die Geflüchteten verstehen nicht, weshalb ich nicht für alle 200 dieses Blatt Papier dabeihabe. Der Mangel der letzten Wochen oder Monate lässt sie alles, aber auch alles an sich reißen. Ich sage, dass ich wiederkommen werde. Ich weiß, dass sie mich nicht verstehen.
Dann ist auch die obere Halle belegt, noch einmal 200 Leute. Hier komme ich mit meinen Arabisch-Übersichten nicht weit. Die Mehrzahl der Geflüchteten kommt aus Afghanis-tan. Auch hier sind es Familien. Die Sprache – erfahre ich nach langem Mühen sei Farsi/ Dari/ Persisch. Das habe ich schon gelesen, wusste aber nicht, wer das spricht. Ich komme mir dumm vor. Die meisten afghanische Flüchtlinge, die hier jetzt einziehen, werden über Jahre hinweg benachteiligt werden.
In dieser Halle werde ich dir, Sarah und deiner Familie in den nächsten Wochen begegnen.
Später zu Hause komme ich nur schwer zur Ruhe. Die Augen der Kinder, die Hoffnung der Männer und Frauen, die leeren Blicke und die Bilder der Bewohner der zwei Hallen mit den vielen Betten, wenigen Duschen und verschmutzten Toiletten erstehen immer wieder vor mir auf.
Aber auch der große Wunsch zu helfen, und zwar mit dem, was ich am meisten kann: Sprache unterrichten. Ich möchte ihnen erste Worte beibringen – meine eigene Muttersprache!
Sprache zu unterrichten, das war eben noch mein Beruf, mein Leben und ist mir nach wie vor Berufung. Was war es, was mich Lehrer werden ließ? „Wenn die Weisen am Ende ihrer Weisheit sind, muss man die Kinder hören“ (Pestalozzi) – waren es Sprüche wie dieser? War es die Sicherheit zu wissen, worauf ich mich einließ? Schule, das kannte ich. Ich weiß, wie es hier zugeht. Ich schreibe und lese über alle Maßen gern. Nein, ich wollte alles ganz anders machen: Keinen zwingen, etwas zu sagen, wenn er nicht will, gleich gar nicht ein ganzes Gedicht auswendig vor 25 Augenpaaren vorzutragen; von keinem zu fordern, ein Buch zu lesen, das ihm gar nicht gefällt, nur weil ein Lehrplan das fordert. Ich glaube, dass es gerade das war, was mich bewog Lehrerin zu werden – die Liebe zum Kind.
Am Abend breche ich mit mehreren Applikationen erneut in die Halle auf. Ich stelle zwei Turnhallenbänke auf, auf denen sofort Kinder und auch Mütter Platz nehmen. An die Hallenwand pinne ich erste Worte: Guten Tag, Ich bin…, das Alphabet. 40 Bewohner sind schon da, weitere stoßen immer wieder dazu. Schnell begreifen sie das Prinzip: Vor-sprechen und im Chor nachsprechen. Es klappt wunderbar. Später werde ich mich als naiv bezeichnen, angenommen zu haben, sie würden etwas verstehen. Schwieriger ist es, ihnen beizubringen, dass sie nicht Marion sind, so wie ich selbst, wenn ich sage: „Ich bin Marion.“ Aber auch das gelingt nach mehreren spaßigen Anläufen, jedenfalls hört es sich so an. Für 1½ Stunden ist das Eis gebrochen. Wir sitzen gemeinsam in dieser Halle, quasi mitten in euren Wohn- und Schlafzimmer, verschleiert, mit Mütze oder auch nicht.
Nach nunmehr zwei Monaten glaube ich etwas gefunden zu haben, was mir einen Sinn gibt und mich tragen könnte. Ich fasse auch den Entschluss, meine Erfahrungen, Emotionen und innere Verfassung in Tagebüchern aufzuzeichnen. Dass diesem ersten noch viele weitere folgen werden, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.
Mein „neues“ Leben beginnt Strukturen anzunehmen, aber ich spüre auch, dass es immer andere Menschen sein werden, die hier in der Halle ankommen. Ein Kommen und Gehen. Kontinuität gibt es nicht. Kontinuität wird es im gesamten Prozess der Integration von afghanischen Flüchtlingen auch in den nächsten Jahren, selbst in einem Jahrzehnt, nicht geben.
Ich habe nicht mehr Erfahrung oder Wissen über das Asylrecht als die Bewohner selbst. Ich sehe nur – so wie ihr – die Jetzt-Situation: Die wenigen Duschen sind defekt, die wenige Kleidung kann nicht gewaschen werden, aus der Kleiderkammer kann man sich neue suchen, insofern vor-handen, ihr weint, streitet, schreit, schlagt auch. Ich sehe, wie ihr immer dünner werdet, blasser, kränker. Ich sehe müde, leere Augen ohne Hoffnung. Ich sehe noch immer keinen Dolmetscher oder Sprachmittler. Ich erfahre, dass ihr eines Tages sehr früh am Morgen mit einem Bus zum Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) gefahren werdet und mit einem gelben Band am Arm zurückkommt.
Keiner weiß, was nun mit euch passiert. Ich spüre Mitgefühl, Fremde, Neugier und eine gewisse Erregung gleichzeitig, ein Gehen zu einem anderen Ufer. Ein Bild tut sich auf, eine Art Landschaft, in der ich mich bewegen könnte.
Marion
Liebe Sarah, 18.2.25
wir haben wenig voneinander gehört, die Kinder lange Zeit gar nicht gesehen. Ich nehme den Kontakt zu dir auf, weil ich euch gern in meinem Leben haben und sicher sein möchte, dass es euch in der gegenwärtigen erhitzten Wahlkampfperiode gut geht. Das war eine richtige Entscheidung, auch wenn sie mich in einen mir sehr bekannten Arbeitsmodus versetzt. Du bringst mir einen Stoß Papiere vom JC ca. 20 Seiten betreffend. Ich nehme alles mit nach Hause, wo ich versuche, herauszufinden, wo das Problem liegt. Es geht um eine Überbezahlung für die Monate Dezember 2023 – Februar 2024. Also genau die Zeit, in der du begannst zu arbeiten. Damals bat ich in einem Schreiben darum, dein Gehalt so schnell wie möglich zu bearbeiten, was anscheinend nicht geschah. Im November 2024 – also 8 Monate später – habe man dir das mitgeteilt. Ob ein solches Schreiben eingegangen ist, kann ich nicht herausfinden. Jedenfalls sind die nun zu zahlenden Schulden einem Inkassobüro der Agentur für Arbeit übergeben worden. Immer neue Forderungen und Mahngebühren kommen dazu. 3 Tage sitze ich über den Zahlen.
Dazu kommt, dass deine Steuerklasse die einer ledigen Mutter ist. Das heißt, dass dir mehr Netto zusteht. Im Bürgeramt nachgefragt, erhältst du die Auskunft, dass du nicht verheiratet bist, weil du, als du die Ehe eingegangen bist, minderjährig warst.
Du hast inzwischen Kindergeldzuschuss beantragt und für 2 Monate auch erhalten, ein Antrag auf Wohngeld wurde abgelehnt. Ein neues Terrain für mich. Zunächst schreibe ich eine Stellungnahme zum Sachverhalt und schicke alles an das JC und die Agentur für Arbeit.
Nun heißt es abzuwarten. Ich fahre zu dir und erkläre dir alles. Uns gelingt es sogar über ein Onlineportal einen Termin bei der Agentur für Arbeit zu erwirken. Das wird am 13.3.25 sein. Ich werde also in meinen Aufzeichnungen nicht mehr davon berichten können. Dafür war der Nachmittag toll. Wir beide konnten uns zum ersten Mal richtig unterhalten. Du berichtetest über deine Arbeit und deinen Alltag, der dich überfordert. Ich erfahre auch, welches Bild du von Deutschland hattest, bevor du hier ankamst. Du erzählst mir etwas über dein Interview und über deine Kinder.
Ich erfahre aber auch, dass euch die politische Situation in Deutschland zusetzt, auch dass du Angst hast auf deinem Weg in die Klinik zu einer Frühschicht oder nach Hause nach einer Nachtschicht. Ich bin da Für dich.
Heute bin ich trotzdem glücklich.
Abschließende Gedanken
…
Dabei ist der Weg so einfach: Ermöglicht den Menschen, die zu uns kommen, sofort nach Ankunft eine Beratung, ob und wenn ja, welche Perspektive für sie in Deutschland möglich ist. Informiert über die einzelnen Schritte und die Zeitdauer zum Erreichen der Ziele, für die ich mit „meiner Familie“ 10 Jahre gebraucht habe. Die junge Frau in meinem Buch liebt es, wenn ich ihr sage: „Sarah, wir machen einen Plan“. Auch wenn dieser nicht immer aufging, so gab er doch Mut und Kraft, auch bei Niederlagen einen nächsten Schritt zu gehen. Ich bin eine Lehrerin, ich möchte Menschen auf Augenhöhe begegnen und schauen, wie sie ihre Potenzen in unser Land einbringen.
Ich danke all den Menschen, die an wichtigen Schnittstellen dazu beitrugen und beitragen, Menschen aus anderen Ländern hier Fuß fassen zu lassen.
MR