Die Familie, über die hier berichtet wird, flüchtete 2015 aus Afghanistan. Für die beiden Söhne (Klassen 4 und 6) beginnt nach einer langen Corona-Pause und den Sommerferien die Schule. Mehrere Monate verbrachte die Familie ohne Deutschkurse, Schule und Kita, in der die 4jährige, in Deutschland geborene Tochter endlich einen Platz bekam, recht isoliert in Angst vor dem Virus zu Hause. Dazu kommt die Sorge um infizierte Familienangehörige zu Hause in Herat.
Der Vater, in seinem Land ein geschätzter Geschäftsmann, hier in Deutschland ein anerkannter Flüchtling, dem das Deutschlernen große Schwierigkeiten bereitet, fühlt sich nutzlos. Er sorgt für die Einkäufe der Familie und versucht eine Rolle für sich als Mann zu finden, die als Vater füllt er umsichtig aus. Die Mutter, eine angehende Hebamme, die ihr Studium im Heimatland nicht zu Ende bringen konnte, spricht und versteht schon recht gut Deutsch und versucht am Familienhandy Online-Learning, Haushalt, Jobcenterschreiben, Betriebskostennachzahlungen, Zahnarztrechnungen usw. irgendwie zu meistern. Einen PC hat die Familie nicht.
Bereits im Vorfeld des Schulbeginns kommt es zu einer Mail- Flut seitens der Schule mit zahlreichen Anhängen an alle Eltern, worauf die Eltern ihrerseits wieder mit zahlreichen Fragen (an alle Eltern lt. Verteilerschlüssel und die Schule) reagieren. Die Mama, die natürlich alles gut und richtig machen, nicht auffallen möchte unter deutschen Eltern, die natürlich im Deutschkurs gelernt hat, Emails zu lesen und zu beantworten, ist mit der Menge der Infos und der Anhänge jedoch überfordert. Welchen Anhang muss sie ausführlich lesen? Welchen kann sie ignorieren?
Liebe Eltern,
hier meine 1. Mail an Sie! Ich freue mich auf die Zusammenarbeit! Einige Eltern hatten sich schon mit Fragen an mich gewandt. Die Bücher bekommen die Kinder ja kostenfrei von der Schule. Hier noch einmal die Materialien:
Hefterfarben bleiben: Ma blau –> karierte Blätter, Deu rot –> linierte Blätter, Sk grün –> karierte, linierte und weiße Blätter, Mu weiß, Ku gelb Für Musik bitte ein Notenheft anschaffen
Alles beschriften!
Auf alle Fälle: HA-Heft mit vordatierten Wochendaten, Postmappe, Federtasche mit 2 Füllern, 2 Bleistiften, Radiergummi, Anspitzer, Lineal, Buntstifte…
Herr T. hatte schon eine Extramail für Ma geschickt. Für die anderen Fächer werden die Fachlehrer dann genaue Infos den Kindern im neuen Schuljahr persönlich mitteilen.
Ab der 4. Klasse schreiben die Kinder auf „normalem“ karierten und linierten Papier (Abstand ca. 1 cm). Links und rechts 2 cm Rand. Für Deu bitte neben dem Hefter auch ein A4-Schreibheft besorgen.
Das Notenheft kann A4 oder A5 sein. Bitte alles für Deu, Sk und Mu am 1. Schultag mitbringen. Sowie Sportzeug!!! Ma und Eng am 2. Schultag mitbringen.
Ich war ja heute erstmalig in der Schule und habe nun „frische Informationen“.
Wir treffen uns am Mo., 10.8.20, pünktlich um 7.45 Uhr am Baum vor dem MEB.– Mit Abstand. Wenn alle Kinder da sind, setzen sie die Maske auf und wir gehen gemeinsam in den Klassenraum (KR) 204.
In den Fluren herrscht „Rechtsverkehr“ und Maskenpflicht, auch beim Toilettengang und auf dem Weg zur Turnhalle, ebenso beim Schlange stehen in der Mensa.Sollte ein Kind aus gesundheitlichen Gründen keine Maske tragen können, so müssen Sie bitte eine schriftliche Bescheinigung, wenn möglich vom Arzt, mitgeben bzw. mir senden. (Eltern betreten das Schulhaus möglichst gar nicht. Falls nötig, nur mit Maske.)
Der Unterricht findet nur im KR und in der Turnhalle (TH) statt.
Obwohl es heiß werden wird, verzichten wir nächste Woche auf „hitzefrei“, da wegen Corona viel ausfiel. Der Unterricht geht also von der 1.-6. Stunde.
In der 1. Woche gibt es ein sog. „Methodentraining“ bei wenigen KollegenInnen und 2 Stunden Sport. Die Klasse geht gemeinsam zum Essen. Kinder, die keinen Vertrag haben, nehmen die Brotdose + Flasche mit. Es sollen „Lernstandserhebungen“ für Deu, Ma und Eng gemacht werden, damit wir herausfinden, wo „Förderbedarf“ besteht bzw. angeknüpft werden muss. Darauf gibt es keine Zensur.
Ab der 2. Woche soll es einen „richtigen Stundenplan“ geben und evtl. eine Lernstandserhebung für Sk.
Sobald ich nähere Informationen von der Schule habe, wende ich mich an die bisherigen Elternvertreterinnen, um einen Termin für die 1. Elternversammlung auszumachen.
Ich habe eine 3tägige Klassenfahrt zum Jugenddorf am Müggelsee reserviert. Vielleicht schauen Sie sich das vorher schon einmal im Internet an.
Eine Mama fragte nach einer >Leseo<-Lizenz. Ich habe mich heute im Sekretariat erkundigt: Wir haben da leider keine Schullizenz.
So, dies meine 1. Mail an Sie. Ich hoffe, sie kommt bei allen an😉.
Es werden noch viiiiiele Mails werden 😊.
Diese Mail beinhaltet 4 Anhänge: Ein Hygienekonzept, ein Hinweisblatt zu Quarantäne nach Urlaubsreisen, ein Schreiben „Fragen und Antworten zum Schulstart“ und dieses Schreiben von Frau Sheeres, das ich, um die Situation der Familie besser zu beleuchten, aufführe:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Eltern,
der Kampf gegen die Corona-Pandemie prägt weltweit das Jahr 2020. Deutschland und Berlin haben diese nie dagewesene Herausforderung bisher gut bewältigt. Dabei haben viele von Ihnen mitgeholfen, auch durch die Betreuung Ihrer Kinder während der Kita- und Schulschließungen. Das war für viele Berliner Familien sehr belastend, aber ein wesentlicher Beitrag zur Eindämmung der Pandemie, für den ich herzlich danke! Auch wegen Ihres Beitrags können wir in Berlin in vielen Bereichen zu einer vorsichtigen Normalität zurückkehren. Trotzdem wird Ihr Kind in dieser Woche in ein neues Schuljahr starten, in dem die Eindämmung der Corona-Pandemie eine große Rolle spielt. Jede Schule hat nach landesweiten Vorgaben einen eigenen Hygieneplan entwickelt. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, regelmäßiges Händewaschen und Lüften, die Einschränkung von Kontakten und weitere organisatorische Maßnahmen werden helfen, das Infektionsrisiko an unseren Schulen so gering wie möglich zu halten. Sie finden eine kurze Übersicht auf der Rückseite und viele weitere Informationen in verschiedenen Sprachen auf unserer Internetseite. Meine herzliche Bitte an Sie lautet: Informieren Sie sich und unterstützen Sie Ihr Kind dabei, alle Regeln und Vorgaben einzuhalten. Nur so können wir alle gemeinsam den Regelbetrieb an unseren Schulen sicherstellen. Ihr Kind hat ein Recht auf Bildung und persönliche Entwicklung, auf gute Zukunftschancen. Daran arbeiten wir auch in Corona-Zeiten, mit Ihnen und dem gesamten Schulpersonal. Es kann sein, dass es dabei an Ihrer Schule in diesem Schuljahr „ruckelt“, die Pandemie wieder mehr Lernen zu Hause oder im Notfall sogar die zeitweise Schließung von einzelnen Klassen oder einzelnen Schulen notwendig macht. Für diesen Fall bitte ich schon jetzt um Ihr Verständnis, Ihre Geduld und Ihren Pragmatismus. Wir können heute noch nicht wissen, wie sich das Infektionsgeschehen in Zukunft entwickeln wird. Daher müssen wir gemeinsam alles unternehmen, um Infektionsketten zu unterbrechen und sowohl die Bildung als auch die Gesundheit unserer Kinder im Blick zu behalten. Mit herzlichen Grüßen Sandra Scheeres Senatorin für Bildung, Jugend und Familie Zentrales E-Mail-Postfach (auch für Dokumente mit elektronischer Signatur): post(at)senbjf.berlin.de
Nur um diesen Brief zu lesen, bräuchte die Mama mindestens eine Stunde. Ob sie allerdings mit dem Begriff „ruckelt“ etwas anzufangen weiß in diesem Kontext oder bis zur Info, dass es auf der Senatsseite im Netz diese und andere Infos in ihrer Muttersprache geben könnte, ist fraglich. Auch für mich war es nicht sofort offensichtlich, wo sich auf der umfangreichen Web Seite diese Schreiben in mehreren Sprachen verstecken. Auch Abkürzungen aus dem Lehrerbrief werden zum Problem, sogar für mich.
Ich schaffe es jedenfalls nicht, diesen Brief mit ihr zu besprechen, denn die Lernmittel müssen besorgt werden. Ich nehme das der Mama ab, denn wenn sie um 14 Uhr aus dem B2-Deutschkurs kommt, werden Kinder und Haushalt vom Ehemann an sie übergeben, da dieser am Nachmittag Deutsch lernt.
Zunächst nehme ich an, dass ich mich auskenne mit all den Heften, denn ich bin ja selbst Lehrerin. Vor den Regalen allerdings bin ich nicht die einzige Hilflose. Ich treffe auf Familien jeder sprachlichen Couleur, die mit einem langen Zettel mit Schulmaterialien unterwegs sind. Da gibt es Großfamilien, deren Schulkinder den Eltern eindringlich und laut erklären/ übersetzen, warum sie dieses Heft mit kleinen Rechenkästchen benötigen und nicht den billigeren mit großen Kästchen, diesen Block mit und nicht ohne einen Rand, Farbtöpfchen und keine Tuben, sie erklären, was Klarsichtfolien sind und wofür sie eine Postmappe brauchen (neben der Mail Post wandern viele weitere Papiere da hinein, die unterschrieben, zur Kenntnis genommen oder gelesen von den Eltern zurück an die Schule gesendet werden wollen). Ein ca. 10jähriges italienisches Mädchen weint schließlich bitterlich, weil ihre Eltern es aufgeben, nach einem Notenheft zu suchen, weil keiner weiß, was gemeint ist oder wie ein solches aussieht. Das tut mir dann so leid, dass ich Hilfe anbiete, was der Mutter sichtlich unangenehm ist, sodass sie zunächst ablehnt. In diesem Moment handelt das Kind in seiner Not einfach und sagt, was es braucht. Ich könnte hier den ganzen Nachmittag als Einkaufshelferin verbringen 😉.
Es sind diese kleinen Alltagssituationen, die beleuchten, dass diejenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, Benachteiligung, Abhängigkeit und daraus resultierend Scham erfahren. Das Mädchen sucht mich noch mehrere Male im Laden auf. Für mich wird auch klar: Alle Schulen wollen rote Hefter und Umschläge für Deutsch und blaue für Mathematik – das erklärt die Lücken im Regal.
Mit all den Dingen im Gepäck mache ich mich auf zur Familie. Den Nachmittag verbringen wir damit, alles zu beschriften, einzuschlagen, zu sortieren und die Post aus der Postmappe zu lesen. Nun sind auch die Schulbücher da, so dass ich einen der Jungs zum Kauf der Buchumschläge schicke, was misslingt; die Ursache kenne ich nicht, vielleicht sind sie tatsächlich ausverkauft.
Die nächste Herausforderung ist die Bestellung des Mittagessens. Das soll wöchentlich die Mama erledigen. Die Schule hat den Anbieter gewechselt, ein neuer Vertrag muss abgeschlossen werden. Die Website des Essenanbieters ist nicht Smartphone tauglich. Die Ansicht muss hin- und hergeschoben werden, um die Menüführung zu erkennen. Die Seite benötigt viel Zeit, um sich aufzubauen. Die Jungs werden angemeldet, wir legen ein Passwort fest und erhalten einen Benutzercode.
Die Registrierung allerdings lässt Tage auf sich warten, so dass wir die Essenauswahl nicht vornehmen können. Erst nach einem Anruf erhalten die Jungs ihre Chipkarte und können essen.
Bevor ich die Familie für vier Tage ihrem Alltag überlasse, üben wir Schultasche packen, spitzen Stifte an, füllen Patronen auf, checken Sportsachen, packen die Zeugnisse unterschrieben in die Postmappe, unterschreiben die Fotoerlaubnis, lesen die Infos zum Seepferdchen, gehen die Punkte der 1. Elternversammlung durch und füllen das Formular für die individuelle Förderung und den Instrumentalunterricht aus.
Ich weiß, dass viele Familien, in denen die deutsche Sprache nicht fließend gesprochen wird, gerade zu Beginn des Schuljahres überfordert sind.
Ich weiß auch, dass ein holpriger Start ins Schuljahr eine Kette von Unzulänglichkeiten nach sich zieht.
Ich weiß, dass daraus bei Schülern und Eltern Resignation und Mutlosigkeit folgen.
Damit ein gesellschaftliches Nach- und vielleicht sogar ein Umdenken folgen könnte, wäre Folgendes möglich:
- Ansprechpartner für die Lehrkraft sind zunächst die Schüler*innen selbst.
- Mitteilungen, sowohl vom Senat als auch von der Schule selbst sind in sogenannter „einfachen Sprache“ verfasst, so dass die Kinder, die oft die Rolle des Dolmetschers oder Übersetzers übernehmen (müssen), diese Rolle auch (in Ermangelung einer anderen Person, die das tut) übernehmen können.
- Bei jeder Aktion, jedem Schriftstück, jeder Mitteilung gibt es keine Benachteiligung für Familien nichtdeutscher Sprachheimat und deren Kinder. Dazu gehört auch die Teilhabe am inhaltlichen Verständnis schulischer Dokumente oder bildungspolitischer Texte.
(Dieser Text ist ein Auszug aus dem 5. Band meines Langzeitprojektes „Flüchtlingshilfe, ein Selbstversuch“, der den Weg einer Flüchtlingsfamilie hier in Deutschland nach dem „Wir schaffen das.“ der Kanzlerin hinterfragt.)